Herr Thöny: Wovon sollten wir uns aus Ihrer Sicht verabschieden?
Glaubt man den Medienberichten, so befindet sich die Schule in einem Stresszustand. Im Kanton Bern sind die Anmeldungen beim Schulpsychologischen Dienst in den letzten 3 Jahren um 40 Prozent gestiegen. Dahinter hat sich eine gigantische Bürokratie aufgebaut, die die Schulen an die Grenzen der Belastbarkeit bringen. Der jetzige Weg, einfach immer mehr vom Gleichen, führt nicht aus der Spirale, die in Richtung Rückkehr zum separativen Schulsystem zeigt. Es ist Zeit für eine Besinnung.
Ein Problem liegt aus meiner Sicht im selektionsorientierten Unterricht. Nach Hartmut von Hentig hätte die Schule die Aufgabe, den Menschen zu stärken und die Sache zu klären. Damit Schülerinnen und Schüler die Schule gestärkt verlassen, muss ein «Mindset» der Zuversicht und des «sich Zumutens» geschaffen werden. Die ganze Bewertungsgeschichte mit Noten erzeugt genau das Gegenteil, setzt alle Beteiligten unter Druck und entwickelt einen negativen Impact. Wünschenswert ist eine Schule, in der Leistungen eingefordert werden, die sich am Potential der Lernenden orientiert. Angestrebt werden erreichbare Ziele. «Ich kann das nicht» wird ersetzt durch «ich kann das (noch) nicht». Es geht um Zuversicht und das Einfordern von Resilienz. Um dies zu erreichen, braucht es eine andere Anlage des Unterrichts.
Ein Gedankenexperiment: Sie erhalten den Auftrag, eine Schule von Grund auf neu zu gestalten. Wie würde sie aussehen?
Ein Zehntel bis ein Siebtel der Lebenszeit verbringt man in der Schule. Ein Grund mehr, die Schule zum Lern- und Lebensort zu machen. Die meisten Kinder werden Tagesstrukturen nutzen. Der Unterricht orientiert sich an dem, was Schülerinnen und Schüler im 21. Jahrhundert brauchen. Es geht um Kreativität, um kritisches Denken, Kommunikation und Zusammenarbeit. Dazu muss sich der Unterricht öffnen. Anstatt mit allen alles zu machen und mit Noten das Scheitern auszuweisen, geht es darum, mit allen – auch mit Risikogruppen - die Grundkompetenzen zu erreichen. Darüber hinaus werden individuell Ziele anvisiert, die dem Potential der Lernenden entsprechen und zu Qualifikationen führen, die den weiteren Weg bestimmen können.
Die Schule wird in Grossgruppen organisiert, für die mehrere Lehrpersonen vor Ort zuständig sind. Damit hat die pädagogische «Alleinerzieherin» ausgedient. Entsprechend werden sich auch die Räumlichkeiten präsentieren. Die Haltung der Lehrpersonen soll geprägt sein von Gelassenheit und Präsenz. An dieser Schule gelten Wertehaltungen, die nicht verhandelbar sind und Regeln, die mit den Betroffenen dann erstellt werden, wenn sie für gutes Lernen und das Zusammenleben nötig werden.
Welche Bedeutung hat das Klassenzimmer auf die Lernqualität?
Die Flurschule des 19. und 20. Jahrhunderts hat ausgedient, weil die Pädagogik ausgedient hat, die dahinter steht (BER-Tagung 2018). Unterrichtsentwicklung und Raumgestaltung stehen in einer Wechselwirkung. Von Räumen gehen Wirkungen aus. Nicht von ungefähr spricht Loris Malaguzzi vom Raum als 3. Pädagogen. Das umgestellte Schulzimmer nach Churermodell schafft Möglichkeiten für einen Unterricht, der sich mehr und mehr öffnet und überfachliche Kompetenzen einfordert. Es schafft Arbeitsplätze mit unterschiedlichen Perspektiven, ermöglicht das Zusammenarbeiten, wie auch das sich Zurückziehen, um ungestört arbeiten zu können. Inputs erfolgen im Kreis. Danach stehen differenzierte Lernangebote bereit. Die Schülerinnen und Schüler wählen Lernaufgaben, Lernort und allenfalls den Lernpartner. Die Lehrperson formuliert Lernerwartungen und begleitet und unterstützt diesen Prozess.
Wieweit das Unterrichten in dieser Form Lernqualität generiert, hängt vom Lernangebot, der Lernbegleitung, dem Lernklima und der Klassenführung der Lehrperson ab. Der Lernraum schafft die Möglichkeiten dazu.
Wie könnte der Schulalltag einer 6.-Klässlerin in der Schule von morgen aussehen?
Möglicherweise hat unsere 6.-Klässlerin in der Schule gefrühstückt und ist nun auf dem Weg in den Lernbereich der 6. Klasse, wo sie von zwei Lehrpersonen empfangen wird. In der Ankommensphase verteilen sich die Lernenden in den Räumlichkeiten und nehmen eine Arbeit auf. Beim gemeinsamen Start im Forum erfahren die Schülerinnen und Schüler, welche Inputs am Vormittag anstehen, damit sie ihre Lernzeit planen können. Viel wird mit Programmen gearbeitet, die den Lernenden auf das nächste Level bringen. Mindestens ein Projekt ist stets in Arbeit. Das Miteinander- und Voneinanderlernen steht im Zentrum. Eine Lehrperson sitzt am Beratungstisch und hilft. In regelmässigen Abständen finden Coachinggespräche statt. In der letzten Stunde vor dem Mittag stehen bewusst keine Inputs mehr an. Die Lerneinheit am Vormittag wie auch am Nachmittag wird im Plenum abgeschlossen. Dabei geht es um den Austausch und um Reflexion.
Wie kann ein Wandel in diese Richtung angegangen werden?
Das Churermodell stellt eine Möglichkeit dar, um in diesen Prozess der Öffnung zu kommen, ohne die Lernenden und Lehrpersonen zu überfordern. Der Wechsel ins Churermodell braucht nicht das Commitment eines ganzen Schulteams. Die Anlage gibt Halt und Sicherheit und lässt genügend Raum, den eignen Unterricht zu gestalten und weiterzuentwickeln.
Was braucht es auf der Ebene der gesamten Schule?
Diese unterrichtliche Entwicklung kann auf das gesamte Schulhaus übertragen werden. Ein modernes Schulhaus besteht nicht mehr nur aus Erschliessungsfläche und Klassenzimmern, sondern aus Lern- und Lebensräumen, die flexibel genutzt werden können. Hier ist eine Architektur gefordert, die Entwicklung ermöglicht und nicht «verbaut».
Für die Lehrpersonen braucht es eine Entlastungskultur, die geprägt ist von Vertrauen und Unterstützung. Der gesamte administrative Aufwand wird heruntergefahren. Die Zuteilung der Ressourcen orientiert sich am Rahmen der erwarteten Diversität. Schulleitungen können zusätzliche Ressourcen sprechen, ohne das Kinder dazu abgeklärt werden müssen.
Welche Vorbehalte gibt es gegenüber den Neuerungen?
Keine.
Sie haben als Primarlehrer, Vizedirektor und in der Lehrpersonenausbildung gearbeitet und sind Initiant des Churermodells, einer weit über die Landesgrenzen hinaus bekannte Unterrichtsphilosophie. Was hat Sie angetrieben die Veränderungen voranzutreiben, das Churermodell zu entwickeln?
Meine Enkelkinder und mit ihnen alle Kinder, die dereinst die Institution gestärkt verlassen sollen. Lehrpersonen, die gelassener und zufriedener unterrichten können, Schulbehörden, die mehr vertrauen und eine Volksschule, die als «Schule für alle» in ihrer Grundidee erhalten bleibt.