Interview
«Wir müssen unsere Studiengänge laufend anpassen und eine breite Palette von Bildungsbiografien berücksichtigen»

Dr. Stefan Niedermann, Dozent und Bereichsleiter an der PH Graubünden, betont die Notwendigkeit für Hochschulen, auf gesellschaftliche und technologische Herausforderungen mit innovativen Bildungsstrategien zu reagieren. Gefragt sind neuartige Lehr- und Lernmethoden, die individuelles und lebenslanges Lernen fördern. Am Beispiel des Masterstudiengangs Sekundarstufe I zeigt er auf, wie solche Konzepte aussehen könnten.

Was sind die aktuellen Herausforderungen in der Hochschuldidaktik der Lehrpersonenbildung und wie haben sie sich in den letzten Jahren verändert?

In meiner Rolle als Dozent und Bereichsleiter an der Pädagogischen Hochschule nehme ich eine Reihe von hochschuldidaktischen Herausforderungen wahr. Eine zentrale Herausforderung besteht darin, die Lehrpersonenbildung kontinuierlich an die sich wandelnden Anforderungen der Gesellschaft und des Bildungssystems anzupassen. Dies beinhaltet beispielsweise die Integration neuer Technologien in den Unterricht, den Umgang mit Diversität und Inklusion sowie die Förderung von Kompetenzen, die die Lernenden auf eine zunehmend komplexe und ungewisse Zukunft vorbereiten. Zudem steht die Lehrerinnen- und Lehrerbildung vor der Aufgabe, angehende Lehrpersonen auf eine Bildungslandschaft vorzubereiten, die von Digitalität und globalen Veränderungen geprägt ist. Diese Entwicklungen erfordern innovative Lehr- und Lernansätze, welche personalisiertes und lebenslanges Lernen unterstützen.

 

Inwiefern beeinflusst der Mangel an Lehrpersonen, insbesondere im Bereich der Sekundarstufe I, die Ausbildung von Lehrpersonen an pädagogischen Hochschulen?

Der Mangel an Lehrpersonen, insbesondere in der Sekundarstufe I, stellt uns vor besondere Herausforderungen. Meiner Ansicht nach erfordert dieser eine Überprüfung unserer Strategien zur Rekrutierung und Ausbildung von Lehrpersonen. Wir müssen innovative Wege finden, um die Ausbildung attraktiver zu gestalten und potenzielle Studierende aus verschiedenen Fachbereichen und mit unterschiedlichen beruflichen Hintergründen anzusprechen. Dies bedeutet, dass wir den Aufbau und die Inhalte unserer Studiengänge laufend anpassen müssen, um eine breite Palette von Bildungsbiografien und Kompetenzen zu berücksichtigen. Ein weiterer Aspekt ist die Notwendigkeit, praxisnahe Lernerfahrungen zu intensivieren, um die Studierenden besser auf ihre zukünftigen Rollen in Schulen vorzubereiten. Die Bewältigung dieser Herausforderungen erfordert also nicht nur quantitative, sondern vor allem qualitative Anpassungen, um zukünftigen Lehrpersonen die bestmögliche Ausbildung zu bieten.

 

Wo steht der neue Studiengang für die Sekundarstufe I und der Kombistudiengang für die Sekundarstufe I und die Maturitätsschulen an der PH Graubünden im Kontext der genannten Herausforderungen?

Wir haben einen Studiengang entwickelt, der auf die zunehmende Heterogenität der Studierenden eingeht und flexible Lernwege ermöglicht. Es ist entscheidend, den Studierenden, die bereits einen Fachbachelor- oder -masterabschluss mitbringen, individuellere Ausbildungssettings anzubieten. Unser Ansatz basiert darauf, dass die Studierenden über drei Jahre hinweg 31 situierte Kompetenzen für den künftigen Berufsalltag erarbeiten. Dies geschieht durch die Erstellung eigener Konstruktionen zur professionellen Meisterung dieser Praxissituationen und dem Nachweis ihrer Umsetzung in der Berufspraktischen Ausbildung. Ein für mich wichtiger Aspekt ist dabei der umgekehrte Kompetenznachweis, welcher für die Lernenden herausfordernd, aber auch besonders bereichernd ist, da er neue Lern- und Beurteilungssituationen ermöglicht. Die Studierenden können dabei ihre bereits vorhandenen Ressourcen und Erfahrungen als Ausgangslage nutzen und ihre erarbeiteten Kompetenzen individualisiert belegen.

 

Wie trägt das Konzept der «situierten Kompetenzen» im Studiengang dazu bei, die Herausforderungen in der Lehrpersonenbildung anzugehen?

Das Konzept ermöglicht eine direkte Anpassung der Ausbildung an die realen Anforderungen des Lehrberufs. Durch das Erarbeiten und Anwenden von Kompetenzen in situativen Kontexten fördern wir nicht nur individuelles, sondern auch kontextbezogenes und praxisnahes Lernen. Die Studierenden werden dazu angeregt, auf der Grundlage wissenschaftlicher Konzepte eigene Lösungen zu entwickeln und diese in der Praxis zu erproben. Das Besondere an diesem Konzept ist, dass sowohl die Erarbeitung als auch die Nachweise der Kompetenzen individuell gestaltet werden können. Dadurch wird nicht nur die persönliche Entwicklung jedes Einzelnen unterstützt, sondern es werden auch die Kompetenzlevels sichtbar, die über die minimalen Anforderungen hinausgehen und vorhandene Kompetenzleistungen sichtbar machen.

 

Wie werden individuelle Lernwege und die Theorie-Praxis-Verknüpfung im Studiengang realisiert?

Wir legen grossen Wert darauf, individuelle Lernwege zu ermöglichen und die Theorie gezielt für die eigene praktische Umsetzung zu nutzen. Es ist essenziell, dass die Studierenden nicht nur Wissen erwerben, sondern auch lernen, dieses Wissen in konkreten beruflichen Situationen anzuwenden. Wir erreichen dies, indem wir die Studierenden bei der Erarbeitung eigener Konstruktionen zur Meisterung relevanter Praxissituationen begleiten. Die Studierenden arbeiten eigenständig an ihren Projekten und entscheiden selbst, wie und wann sie bestimmte Kompetenzen erarbeiten und nachweisen. Diese Flexibilität unterstützt nicht nur unterschiedliche Lernstile, sondern fördert auch die Selbstständigkeit und Eigenverantwortung für den späteren Berufsalltag.

Zusätzlich haben die Studierenden die Möglichkeit, aktiv bei der Semesterplanung mitzuwirken. Studierende können ihre Bedürfnisse für die folgenden Modultermine äussern, woraufhin wir Dozierenden spezifische Angebote machen. Dieser partizipative Ansatz ermöglicht es den Studierenden, ihre Lernpfade selbst zu bestimmen und sich dabei kontinuierlich mit der Verknüpfung von Theorie und Praxis auseinanderzusetzen.

 

Wie sieht bei so viel Individualität das soziale Lernen aus und wie wird die entwicklungsorientierte Beurteilung umgesetzt?

Kollaboratives Lernen ist eine Möglichkeit, die sozialen und kommunikativen Kompetenzen der Studierenden zu stärken, was für ihren zukünftigen Berufsalltag von Bedeutung sein wird. Um dies zu fördern, haben wir verschiedene Formate etabliert, in denen die Studierenden gemeinsam Projekte umsetzen, sich gegenseitig Feedback geben und miteinander in Austausch kommen. Diese Form der Zusammenarbeit spiegelt die Teamarbeit wider, die in der modernen Bildungslandschaft immer wichtiger wird.

Die Entwicklung der Studierenden wird durch die entwicklungsorientierte Beurteilung gefördert. Anstatt nur einmalige Lernnachweise zu erhalten, können die Studierenden ihre Arbeiten auf der Grundlage von Feedback verbessern und weiterentwickeln. Dieser Prozess fördert nicht nur kontinuierliches Lernen, sondern auch eine Kultur der Reflexion und des ständigen Strebens nach Weiterentwicklung. Zudem führt er formal zu einem höheren Kompetenzniveau, welches im Diplom attestiert wird. Es ist wichtig, dass die Studierenden lernen, ihre eigene Entwicklung zu erkennen und zu würdigen. Die entwicklungsorientierte Beurteilung bietet hierfür eine Möglichkeit.

 

Welche Erfahrungen wurden in der Umsetzung bereits gesammelt und wie werden sie zukünftig genutzt?

Die Studierenden schätzen die hohe Individualisierung und die Möglichkeit, eigene Lernwege zu gestalten. Sie nutzen die Freiheiten und Flexibilität des Studiengangs, um ihre Kompetenzen im individuellen Tempo und auf ihre eigene Art und Weise zu entwickeln. Häufig wird aber auch das kollaborative Lernen als Chance für individuelle Lernfortschritte gesehen. Eine Herausforderung besteht jedoch darin, dass einzelne Studierende sich primär auf die Abarbeitung der Lernnachweise konzentrieren und die Möglichkeit, sich während den Modulveranstaltungen auszutauschen, weniger wahrnehmen. Hier besteht Potenzial für Verbesserungen, insbesondere in Bezug auf die Förderung des kollaborativen Lernens und die Stärkung von Teamfähigkeit. Für die Lernnachweise haben wir nun Teamarbeiten in wechselnden Teamzusammensetzungen eingeführt.

Die entwicklungsorientierte Beurteilung hat sich bewährt. Studierende mit unterschiedlichen Vorkenntnissen nutzen die Möglichkeit, ihre Kompetenzen anhand der Rückmeldungen kontinuierlich zu verbessern und höhere Bewertungsniveaus anzustreben.

Die Lernbegleitung durch die Dozierenden sowie ihre Beratungskompetenz hat sich als zentral für Umsetzung unseres Ansatzes erwiesen. Eine adaptive und individuelle Unterstützung ist entscheidend, um die Studierenden zielführend durch ihre Herausforderungen zu navigieren und sie in ihrer persönlichen sowie fachlichen Entwicklung zu fördern. Auch im kollegialen Austausch hat die Lernbegleitung einen zentralen Stellenwert bekommen.

Die gesammelten Erfahrungen motivieren uns, den Studiengang kontinuierlich weiterzuentwickeln und die Erkenntnisse auch für die Gestaltung anderer Studiengänge zu nutzen. Über ein Netzwerk mit anderen pädagogischen Hochschulen tauschen wir regelmässig Erfahrungen aus und sind daran, voneinander zu lernen. Es bleibt spannend zu sehen, wie sich unsere Ansätze in der Lehrpersonenbildung weiterentwickeln und welche neuen Möglichkeiten sich daraus ergeben.

Dr. Stefan Niedermann arbeitet seit 2008 an der PH Graubünden in der Aus- und Weiterbildung von Lehrpersonen und leitet den Bereich der Erziehungswissenschaften. Er hat als Lehrer auf den verschiedenen Stufen der Volks- und Maturitätsschulen unterrichtet und 2008 ein Studium in pädagogischer Psychologie an der Universität Fribourg abgeschlossen. Er ist zertifizierter Hochschuldidaktiker und Studiengangsleiter des CAS Hochschuldidaktik.

CAS Hochschuldidaktik

Der CAS Hochschuldidaktik befähigt die Teilnehmenden, im Bereich der Hochschullehre ihren eigenen Unterricht entlang aktueller didaktischer Grundlagen, Theorien und Konzepte weiterzuentwickeln. Durch individualisierte und personalisierte Zielsetzungen wird ressourcen- und entwicklungsorientiertes Lernen entlang der eigenen Kompetenzprofil gefördert. Ziel ist die eigenständige Planung, Durchführung und Weiterentwicklung des eigenen Hochschulunterrichts. Die Integration neuer Erkenntnisse aus Forschung, Gesellschaft, Technologie und Hochschuldidaktik ermöglicht es, das Lernen in Richtung einer zukunftsfähigen Hochschule voranzutreiben.

CAS Hochschuldidaktik.

Was zeichnet eine Hochschuldozentin, einen Hochschuldozenten aus? Die Leidenschaft für sein Fach? Die Motivation, den Studierenden möglichst viel mit auf den Weg zu geben? Die Freude am Unterrichten? Der CAS - Hochschuldidaktik bietet die Möglichkeit über Inputs, Colearning-Sessions und individuelle Unterrichtsentwicklungsprojekte den eigenen Unterricht entlang dieser Fragestellungen weiterzudenken und Umsetzungen auszuprobieren.

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Masterstudium Sekundarstufe I für Personen mit Fachbachelor.

Als Lehrer:in auf der Sekundarstufe I bereiten Sie Jugendliche auf ihre Zukunft vor. Dieses anspruchsvolle Berufsziel erreichen Sie an der PH Graubünden im dreijährigen Teilzeit-Studium. Es erwartet Sie ein abwechslungsreiches Programm mit einem hohen Anteil an Fachdidaktik und Berufspraxis. Die Ausbildung ist stark individualisiert und befähigt Sie, an einer Real- oder Sekundarschule zu unterrichten.

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Masterstudium Sekundarstufe I + Maturitätsschulen für Personen mit Fachmaster.

Als Lehrer:in auf der Sekundarstufe I und Maturitätsschulen bereiten Sie Jugendliche auf ihre Zukunft vor. Dieses anspruchsvolle Berufsziel erreichen Sie an der PH Graubünden im dreijährigen Teilzeit-Studium. Es erwartet Sie ein abwechslungsreiches Programm mit einem hohen Anteil an Fachdidaktik und Berufspraxis. Die Ausbildung ist stark individualisiert und befähigt Sie, an einer Real- oder Sekundarschule sowie in Maturitätsschulen zu unterrichten.

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