#HOCHalpin:
«Das Ziel bleibt immer das Ziel»
Hansi Kessler, Bergführer, Extrembergsteiger und Sportdozent an der PH Graubünden, hat die Eiger-Nordwand durchstiegen und war am Mount Everest. Ein Gespräch über die Faszination des Alpinismus, den Umgang mit Angst und das Glück, eigene Grenzen zu überwinden.
(Titelbild: Hansi Kessler im dritten Eisfeld in der Eigernordwand, Fotograf: Robert Bösch)
Du hast mit 20 Jahren mit dem Bergsteigen begonnen. Was haben dich die Berge in all den Jahren gelehrt?
Vieles, aber vor allem eines: Geduld – selbst in schwierigen Situationen. Die Berge unterrichten mich in Demut und Respekt.
Wie fühlt sich das an?
Als Bergführer oder Alpinist ist man immer eng mit der Natur verbunden. Ich muss ihre Signale wahrnehmen und analysieren. Gelingt mir dies, empfinde ich ein grosses Vertrauen, welches mich in schwierigen Momenten die richtigen Entscheide treffen lässt. Wenn ich in den Bergen bin, fühle ich mich am richtigen Ort – auch in schwierigen Situationen. Die wirklichen Probleme liegen unten im Tal.
Bedeutet Bergsteigen auch flüchten?
Die Vorstellung, dass Alpinisten den Kick in den Bergen suchen respektive dort in einem permanenten Dopaminrausch leben, ist eine falsche Vorstellung. Das gibt es, aber nur in besonderen Momenten. Mein Körper adaptiert sich sehr gut an die Höhe, die Anpassung zurück im Alltag bereitet mir seit jeher mehr Mühe. Ich muss mich erst wieder an die Enge des Lebens im Tal gewöhnen, an das verlorene Gefühl von Freiheit. Die Rückkehr ist für mich körperlich sowie emotional meist belastender.
Du warst auch am Mount Everest. Wo lag der Reiz der Besteigung?
Der Everest ist mit seinen 8848 Metern der höchste Punkt der Welt. Höher kann man nicht klettern. Ich wollte mir diesen Traum erfüllen und flog dafür 1991 mit einer internationalen Expedition nach Nepal.
Wie bereitet man sich auf so etwas vor?
Es ist vergleichbar mit der Vorbereitung eines Sportlers oder einer Sportlerin auf eine Weltmeisterschaft. Alles dreht sich um diesen einen Tag. Auf dem Gletscher selbst habe ich 8 Wochen verbracht, um meinen Körper an die extremen Bedingen zu gewöhnen; die meiste Zeit im Basislager auf 5400 Metern. Das Lager ist der Ausgangspunkt, von dem aus die Bergsteiger den Everest immer wieder ein Stück hinaufsteigen und dann wieder zurückkehren. Die Anpassung an den geringen Sauerstoffgehalt lässt keine andere Vorgehensweise zu. Die Kunst liegt in der Trainingssteuerung. Nur wer die Signale des Körpers richtig deutet, hat eine Chance, ohne zusätzlichen Sauerstoff in Höhen von 8000 Metern aufzusteigen.
Hat es geklappt?
Wir waren zweimal auf 8400 Meter. Doch extreme Höhenstürme liessen an diesen Tagen leider keinen Gipfelerfolg zu. Wir sahen uns gezwungen, umzukehren. Ich habe alles getan für den Erfolg, aber die Naturgewalt legte ihr Veto ein.
Wie geht man damit um?
Ich hatte nie das Gefühl, gescheitert zu sein. Dies wäre der Fall gewesen, wenn ich nicht fit genug oder die körperlichen und technischen Leistungsanforderungen nicht erfüllt hätte. Beim Bergsteigen geht es immer auch um zwei wichtige Dinge: das Glück und die richtigen Verhältnisse vor Ort. Ich erinnere mich noch gut an eine Radiomeldung, genau ein Jahr später. 40 Leute hatten den Gipfel erreicht, und das bei schönstem Wetter. Als Bergsteiger muss man lernen, Dinge zu akzeptieren. Wenn man Warnsignale ignoriert, kommt man im Extremfall nicht mehr zurück.
Was ist mit der Aussage "Der Weg ist das Ziel"?
Wenn man sich zu einem Ort wie diesem aufmacht, dann bleibt das Ziel immer das Ziel; und der Weg ist der Weg. Das heisst nicht, dass der Weg nicht spannend sein kann.
Bild 1) Hansi-Kessler im Götterquergang in der Eigernordwand.
Bild 2) Der Mount Everest im letzten Sonnenlicht.
(Fotograf: Robert Bösch)
Szenenwechsel: Eigernordwand, es ist Nacht, eingehüllt im Schlafsack, freier Blick auf 1000 Meter Tiefe. Stets im Bewusstsein, das etwas passieren kann. Wie muss man sich das vorstellen?
Sitzend auf einem Felsvorsprung, angebunden an einem 11 Millimeterseil. Da sitzt man, wie auf einem schlechten Bürostuhl - was soll da passieren? Es gibt angenehmere Orte, die Nacht zu verbringen. Wenn im Tal langsam die letzten Lichter erlöschen, dringt die Kälte langsam in die Knochen - 10 Minuten Dösen wechseln sich mit 30 Minuten Aufwärmen ab. Wenn um 2 Uhr nachts das letzte Licht auf dem Schilthorn ausgeht, hat man wenigstens die Gewissheit, dass die Morgendämmerung nicht mehr allzu fern ist.
Hattest du nie Angst?
Angst ist eine Emotion, die mich sehr wohl beeinflusst. In herausfordernden Situationen verlasse ich mich immer auf meine Intuition. Dies äussert sich bei mir durch das grosse Vertrauen in den Moment. Beim Sportklettern verfolgt mich nach vielen Erfahrungen immer noch die Angst, ins Seil zu fallen. Und das, obwohl ich genau weiss, dass ausser ein paar Metern durch die Luft zu fliegen, um dann relativ sanft von der Seildehnung aufgefangen zu werden, nichts passiert. Wer sich bereits in einer Angstsituation befindet, kann nicht erfolgreich sein, denn Angst lähmt. Meistens fürchtet man sich ja nicht vor der Situation selbst, sondern vor den Konsequenzen, die daraus resultieren. Grundsätzlich gilt jedoch: Man muss sich seinen Ängsten stellen und Strategien entwickeln, um mit ihnen umzugehen.
Und bei Prüfungsängsten?
Wichtig ist immer, Ängste nicht noch zusätzlich zu schüren. Damit meine ich nicht diese Unsicherheit vor Prüfungen, die es einem ermöglicht, im Anschluss sein Potenzial abzurufen. Ich meine diese lähmende Angst, die einen daran hindert, sein Potenzial zu entfalten. Die Motivation besteht aber nicht darin, den Schülerinnen und Schülern direkt die Angst vor einer Prüfung zu nehmen. Das funktioniert nicht. Die Situation ist vergleichbar mit der auf dem Berg. Als Bergführer muss ich meinen Gästen das Vertrauen geben, dass sie etwas können. Ich muss sie emotional unterstützen, damit sie an schwierigen Stellen Vertrauen in ihre Kompetenzen entwickeln können.
Ist es auch eine Frage des Selbstvertrauens?
Natürlich, das kennen wir doch alle. In jeder Rolle, die ich als Führungsperson einnehme, ist es mein Anspruch, die Gruppenmitglieder zu unterstützen. Indem ich beispielsweise eine Lernatmosphäre schaffe, die es ihnen ermöglicht, ihr Potenzial abzurufen. Diese kurzen Momente der gefühlten Stärke ermöglichen eine positive Entwicklung. Dies zeigt sich sowohl in der Tätigkeit als Bergführer wie auch als Lehrer.
Kannst du das an einem Beispiel erklären?
Ein gutes Beispiel aus dem Sportunterricht an der PH Graubünden ist der sogenannte Wallflip, der Rückwärtssalto an der Wand. Für viele ein Ding der Unmöglichkeit. Ich stelle mir also die Frage: Wie schaffe ich es, dass alle den Salto machen, auch wenn sie es sich selbst nicht zutrauen? Ich muss merken, wo die Studierenden zu Beginn stehen, wo sie Schwierigkeiten haben, womit sie hadern und wie ich sie unterstützen kann, damit sie den nächsten Entwicklungsschritt machen können. Das ist ein sehr persönlicher Prozess. Wie ein Bergführer auf dem Berg muss ich überzeugt sein, dass sie es schaffen und ihnen Vertrauen in ihre Fähigkeiten geben. Vieles geschieht nonverbal: durch die Stärke, die ich ausstrahle, und die Sicherheit, die ich vermittle.
Jetzt sind wir gespannt auf das Ergebnis.
Es funktioniert. Bis auf wenige Ausnahmen schaffen alle den Wallflip. Die Jugendlichen können viel mehr, als man denkt. Längst nicht nur Purzelbäume.
Liegt das Glück also in der Überwindung?
Die Kunst besteht darin, die Studentinnen und Studenten aus ihrer Komfortzone zu locken. Dann spüren sie, wie ihr Körper Adrenalin durch Dopamin ersetzt - also Glückshormone produziert. Und genau diese Momente sind es, die das Leben lebenswert machen und uns die Möglichkeit zu einer positiven Entwicklung eröffnen.
Wie erlebst du persönlich solche Augenblicke?
Wenn ich sehe, wie sich die Studierenden über etwas freuen, dass sie etwas geschafft haben, was sie sich vorher nie zugetraut hätten, wenn sie jubelnd drei Runden durch die Turnhalle rennen und rufen "Ich hab's geschafft, ich hab's geschafft", dann macht mich das glücklich. Denn ich habe meine Erwartungen an die Fachkompetenz erfüllt. Und ich weiss: Wer selbst seine Ängste überwindet und sich selber befähigt, der kann das auch an seine Schülerinnen und Schülern weitergeben. Es ist wunderbar, den Menschen Vertrauen in ihre Fähigkeiten zu geben und sie persönlich weiterzubringen. Daraus ziehe ich seit 35 Jahren meine tägliche Motivation als Sportlehrer.