
Sandra Locher Benguerel ist Vizepräsidentin der Pädagogischen Hochschule Graubünden, Lehrerin an der Stadtschule Chur und Mitglied der Geschäftsleitung des Dachverbandes Lehrerinnen und Lehrer Schweiz (LCH).
Nun sind wieder viele Schulklassen unterwegs – auf Exkursionen, Schulreisen oder in Klassenlagern. Welche Bedeutung haben solche ausserschulischen Aktivitäten? Und wie wirken sich diese auf die Kinder und Jugendlichen aus?
Text von Sandra Locher Benguerel, Hochschulrätin der PH Graubünden.*
Woran erinnern Sie sich, wenn Sie an Ihre Schulzeit zurückdenken? Mir kommen zuerst die Abenteuer auf Schulreisen und in Lagern als prägende Erfahrungen in den Sinn. Diese möchte ich auch meinen Schülerinnen und Schülern ermöglichen. Als Lehrerin plane ich in meinem Unterricht regelmässig Lerngelegenheiten ausserhalb des Schulzimmers ein. So sind der Besuch von Ausstellungen, die Teilnahme an Schneesporttagen oder auch das gemeinsame Feuer mit Schlangenbrot im Wald Höhepunkte eines Schuljahres, auf welche sich alle Schülerinnen und Schüler freuen. Diese Erlebnisse ermöglichen es mir als Pädagogin, die Schülerinnen und Schüler in einem anderen Umfeld kennenzulernen. Oft entdecke ich dabei besondere Fähigkeiten und Interessen bei ihnen, welche im Schulzimmer nicht zum Tragen kommen. Ausserschulische Bildungsangebote nehmen eine Brückenfunktion ein zwischen der Komplexität der Umwelt, der Erfahrungswelt der Kinder und Jugendlichen und dem Unterricht. Es gibt grundsätzlich zwei verschiedene Arten des ausserschulischen Lernens: Einerseits Angebote, die didaktisch aufbereitet sind wie beispielsweise interaktive Ausstellungen in Museen, Kulturvermittlungsanlässe oder Lernpfade in der Natur. Andererseits gibt es Lernorte, welche vielseitige Einblicke in die reale Welt bieten wie eine Exkursion an einen Weiher, den Besuch einer Sternwarte oder eines Bauernhofs oder eine Führung durch verschiedenen Arbeitsorte, zum Beispiel in einem Hotel.
Ausserschulisches Lernen gehört zu einem modernen Lernverständnis, ist jedoch alles andere als neu. Bereits der mährische Pädagoge Johann Amos Comenius (1592–1670) fragte vor rund vierhundert Jahren: «Warum sollte nicht die Lehre mit einer Betrachtung der wirklichen Dinge beginnen statt mit einer Beschreibung durch Worte?» Johann Heinrich Pestalozzi hat die Idee mit seinem pädagogischen Grundprinzip von «Kopf, Herz und Hand» aufgenommen. Dieser Grundsatz gilt auch heute noch. Lernpsychologisch gesehen ist die unmittelbare Begegnung mit der Sache selbst von grosser Bedeutung, denn das Denken geht aus dem Handeln hervor. Im Lehrplan 21 wird Schule als Gestaltungs-, Lern- und Lebensraum betrachtet: «Die zentrale Aufgabe der Schule besteht darin, den Schülerinnen und Schülern kultur- und gegenstandsbezogene Erfahrungen zu ermöglichen und dabei grundlegende fachliche und überfachliche Kompetenzen zu vermitteln.» Begegnungen mit realen Situationen sind wichtig, um den Lebens-, Raum- und Zeitbezug herzustellen. Beispielsweise kann das Thema Biodiversität mit einer Führung im Schweizerischen Nationalpark anschaulich, lebendig und an realen Gegebenheiten vermittelt und beim anschliessenden Museumsbesuch vertieft werden. Oder lässt sich bei einem Dorf- oder Stadtrundgang praxisnah in ein Geschichtsthema einsteigen – ergänzt mit dem Besuch historischer Bauten und spannenden Erzählungen. Durch entdeckende und forschende Handlungsweisen unter professioneller Begleitung entsteht also eine tiefe Verbindung zum Lerngegenstand. Dabei erzeugen Emotionen einen besonders nachhaltigen Lerneffekt.
Ausserschulische Aktivitäten ermöglichen Gemeinschaftserlebnisse, welche die körperliche und mentale Gesundheit positiv beeinflussen. Schülerinnen und Schüler erleben sich und die Klassengemeinschaft in einem erweiterten und bewegten Umfeld verbunden mit spannenden Anforderungen. Die Schule wird vom Lern- zum Lebensraum. Die im Lehrplan geforderten sozialen Fähigkeiten, insbesondere was den Umgang mit Vielfalt und die Teamarbeit betrifft, werden entwickelt und gestärkt. Besonders tragen mehrtägige Klassenreisen oder Lager zur Entwicklung der wichtigen Sozialkompetenzen bei. Der Zusammenhalt wird gestärkt und der Beziehungsaufbau nachhaltig gefördert. Dadurch wird auch das Gemeinschaftsgefühl ausgebaut, welches den Kindern und Jugendlichen Halt und Sicherheit gibt und auch ihre Selbstwirksamkeit stärkt. Schulische Leistung rückt in den Hintergrund. Zurück im Schulzimmer wirken sich ausserschulische Aktivitäten positiv auf die Klassenatmosphäre aus und legen eine gute Basis für den Lernerfolg. Ein weiterer Punkt ist, dass sich die Lebensräume der Kinder stark verändert haben. Viele verfügen heute kaum über einen unmittelbaren Zugang zur Natur und zur realen Lebenswelt. Sie verbringen ihren Alltag zunehmend in der Ersatzwelt der digitalen Medien. Fachleute aus Wissenschaft und Psychologie warnen vermehrt vor den negativen Folgen für Kinder und Jugendliche, wenn diese zu viel Zeit an Bildschirmen verbringen. An unseren Schulen bestehen klare Regelungen, was die Nutzung solcher Geräte betrifft. Im Zuge dieser Kritik aus der Fachwelt gewinnen ausserschulische Aktivitäten zunehmend an Bedeutung. Denn weder Maschinen noch Algorithmen können das praktische und kreative Handeln und Erleben ersetzen.
Im Idealfall tragen die Kinder und Jugendlichen ihre Erfahrung aus ausserschulischen Aktivitäten ins Familienleben. So weise ich beispielweise die Schülerinnen und Schüler beim Besuch von kulturellen Aktivitäten darauf hin, dass sie dieses Angebot auch mit ihrer Familie nutzen und als Expertinnen und Experten das erlangte Wissen weitergeben oder vertiefen können. Dies ermöglicht den Kindern und Jugendlichen, das Gelernte wiederzugeben und damit zu festigen, und sie gewinnen dabei gleichzeitig an Selbstsicherheit. Vielleicht verfügen Sie als Erziehungsberechtigte über ein spezifisches Fachwissen oder haben Bezug zu einem Ort, welcher für die Schülerinnen und Schüler interessant ist. Zögern Sie nicht, auf uns Lehrpersonen zuzukommen. Leiten Sie Ihr Kind an, selbst Dinge zu entdecken und zu erforschen. Verbringen Sie mit Ihren Kindern viel Zeit in der Natur, lassen Sie sie kochen oder ihr Fahrrad reparieren. Viel Freude beim gemeinsamen Erleben und Lernen!
Sandra Locher Benguerel ist Vizepräsidentin der Pädagogischen Hochschule Graubünden, Lehrerin an der Stadtschule Chur und Mitglied der Geschäftsleitung des Dachverbandes Lehrerinnen und Lehrer Schweiz (LCH).
* Dieser Text erschien im Schweizer ElternMagazin Fritz+Fränzi, Ausgabe Mai 2025. Publikation mit freundlicher Genehmigung der Stiftung Elternsein.
VorstellBar ist ein Podcast-Format des Netzwerks heterogenes Lernen. Ein Gast, ein Thema, ein Feierabendhäppchen - direkt auf die Ohren. Die Sendung ist eine bunte Mischung aus spannenden, aktuellen und manchmal auch verrückten Ideen aus der weiten Welt des Lernens, der Schule und der Bildung.
mehr InformationenDas Bildungsangebot paradisea bringt den Unterricht hinaus in die Natur und Kultur – zu alten Säumerwegen, Wildbächen, Wasserquellen oder historischen Burgen. Es verknüpft ausserschulisches Lernen mit dem Lehrplan 21 und wurde an der Pädagogischen Hochschule Graubünden entwickelt. Die Lehr- und Lernmaterialien stehen kostenlos zur Verfügung und können von Lehrpersonen direkt im Unterricht eingesetzt und weiterentwickelt werden.
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