
V. l. n. r.: Chantal Marti-Müller (Leiterin Amt für Volksschule und Sport, AVS), Reto Givel-Bernhard (Rektor der Pädagogischen Hochschule Graubünden), Nora Kaiser (Präsidentin des LEGR)
Drei zentrale Akteur:innen der Bündner Bildungslandschaft treffen sich zum Gespräch: Nora Kaiser (Präsidentin des LEGR), Chantal Marti-Müller (Leiterin Amt für Volksschule und Sport, AVS) und Reto Givel-Bernhard (Rektor der Pädagogischen Hochschule Graubünden). Sie diskutieren über prägende Schulerfahrungen, aktuelle Herausforderungen und gemeinsame Visionen für die Zukunft der Volksschule im Kanton Graubünden. Das Gespräch beleuchtet, wie Schule heute gestaltet wird und welche Entwicklungen in den kommenden Jahren anstehen.
Nora Kaiser: Besonders in Erinnerung geblieben sind mir die Aktivitäten ausserhalb des Klassenzimmers – Musik- und Theaterprojekte, Museumsbesuche, Klassenlager. Wenn ich heute das Kunstmuseum Graubünden besuche, erkenne ich Werke wieder, die ich als Kind gesehen habe, was eine tiefe Verbindung schafft. Gute Lehrpersonen zeichneten sich für mich durch Verbindlichkeit und Klarheit aus. Negativ empfand ich den ständigen Wettbewerb in der Klasse, der Stress verursachte.
Reto Givel-Bernhard: Besonders positiv erinnere ich mich an Lehrpersonen, die ich als gerecht und empathisch empfand. Beeindruckt hat mich ein Lehrer, der spannende Anekdoten erzählte – ob wahr oder erfunden, spielte keine Rolle. Lehrpersonen, die uns aktivierten, Vorträge halten liessen oder den Unterricht nach draussen verlegten, sind mir stärker in Erinnerung geblieben.
Chantal Marti-Müller: Der erste Schultag war für mich ein besonderer Moment voller Freude. Ich mochte Fächer wie Mathematik und Sport sehr. Meine Erstklasslehrerin brachte uns das ABC spielerisch bei, sodass ich gar nicht merkte, dass ich lernte. Ein Fünftklasslehrer veranschaulichte Bruchrechnen mit einem Kuchen – ein einprägsames Beispiel für praxisnahen Unterricht.
Chantal Marti-Müller: Obwohl meine Schulzeit einige Jahre zurückliegt, hat sich das Bildungsziel der Volksschule nicht grundlegend verändert: Schülerinnen und Schüler sollen zu selbstständigen Persönlichkeiten heranwachsen und sich verantwortungsvoll verhalten können. Dieses Ziel ist auch in der Gesetzgebung verankert. Bei Unterrichtsbesuchen erlebe ich neugierige, interessierte Schüler:innen sowie engagierte Lehrpersonen und Schulleitungen, die ihre anspruchsvollen Aufgaben mit Freude wahrnehmen.
Reto Givel-Bernhard: Als Vater nehme ich die Schule anders wahr als früher. Ich nenne das den «Bärengraben-Effekt»: Als Kind erschien mir die Mauer des Bärengrabens in Bern riesig, heute reicht sie mir nur bis zum Bauchnabel. Ähnlich ist es mit der Schule – meine Erinnerungen sind verzerrt. Was ich jedoch zu beurteilen vermag, ist die Veränderung der Struktur: Früher hatten wir samstags Schule, die Klassenzimmer waren strikt in Reihen organisiert, und die Eltern stellten die Lehrpersonen kaum infrage.
Nora Kaiser: Ich unterrichte am Gymnasium, wo sich nicht ganz so viel verändert hat. In der Volksschule hingegen erlebe ich eine breitere, vielfältigere und komplexere Struktur. Früher gab es keine Differenzierung im Unterricht – alle machten dasselbe zur gleichen Zeit. Heute werden Schüler:innen individueller gefördert, was ich als positive Entwicklung sehe.
Chantal Marti-Müller: Die Schule muss kontinuierlich auf neue gesellschaftliche Bedürfnisse reagieren. Diese fliessen in gesetzliche Rahmenbedingungen und Lehrpläne ein. Als Amt müssen wir vorrauschauend handeln und die Schulen unterstützen. Ein aktuelles Beispiel ist der «Kompass Digitalität», der Schulen Empfehlungen und Informationen zur Digitalisierung bietet, die sie an ihre lokalen Bedürfnisse anpassen können.
Reto Givel-Bernhard: Studierende müssen lernen, den ihnen gegebenen Spielraum zu erkennen und konstruktiv zu nutzen. In Praktika sehe ich grosse Unterschiede: Manche Studierende unterrichten noch – durchaus verständlich – mit angezogener Handbremse. Mit dem Projekt «Lernen 29» wollen wir den Fokus stärker auf das Lernen der Schüler:innen legen, weniger auf das Unterrichten. Das erfordert Flexibilisierung und kann auch dazu beitragen, dass die Lehrpersonen ihren Beruf gut und gerne ausüben können.
Nora Kaiser: Ich beobachte eine Grundzufriedenheit bei Lehrpersonen, die aus der Freude an der Arbeit mit Kindern resultiert. Diese Freude stärkt die Resilienz, auch wenn die Rahmenbedingungen nicht perfekt sind. In öffentlichen Debatten wird oft mehr Unzufriedenheit dargestellt, als ich im direkten Gespräch erlebe. Die Haltung, dass es Platz für alle in unserer Schule gibt und wir täglich am sozialen Miteinander arbeiten, stimmt mich optimistisch.
Nora Kaiser: Ein zentrales Thema ist die Gewinnung geeigneter Lehrpersonen. Die PH ist verantwortlich für die bestmögliche Ausbildung, das AVS für die Beratung und Aufsicht der Volksschulen und der LEGR vertritt die ausgebildeten Lehrpersonen. Wir müssen auch Quereinsteigenden und Stellvertretenden entgegenkommen, um das System Schule am Leben zu erhalten, und dabei aber den Berufsstand schützen und gute Rahmenbedingungen gewährleisten.
Reto Givel-Bernhard: Unser gemeinsames Ziel ist eine starke Volksschule und ein attraktiver Lehrberuf. Die Qualität der Volksschule hängt stark von der Qualität der Lehrpersonen ab. Deshalb spielt die PH eine wichtige Rolle, und alle Akteure – AVS, LEGR, PH Graubünden und weitere – müssen gut zusammenarbeiten. Durch einen abgestimmten Dialog können wir mehr erreichen, als wenn jeder seinen eigenen Weg geht.
Chantal Marti-Müller: Wir pflegen den Austausch mit Schulsozialpartnern und der PH. Solche Treffen sind wichtig, um relevante Themen und konstruktive Lösungen für eine gute Bündner Volksschule zu besprechen. Zentral ist, dass wir uns dabei immer die Bildung der Schüler:innen vor Augen halten. Wir alle müssen uns dafür einsetzen, dass uns das gelingt, jeder mit seinen Aufgaben und Pflichten.
Chantal Marti-Müller: Meine Vision ist eine Schule, wie sie das AVS im Diskussionspapier «Bündner Volksschule 2035» skizziert. Sie wird von allen Beteiligten getragen und weiterentwickelt. Sie geht neue Entwicklungen mutig an, zum Beispiel in der Digitalisierung, dem sozialen Wandel oder der Gesundheit. Und sie besinnt sich immer wieder auf das wichtigste Ziel zurück, nämlich Kinder und Jugendliche auf die eigene Lebensgestaltung vorzubereiten.
Nora Kaiser: Ich wünsche mir, dass Graubünden sich zum Ziel setzt, die beste Volksschule zu sein, um dem demografischen Wandel entgegenzuwirken. Dazu brauchen wir motiviertes Personal, Unterstützung vom Amt und kontinuierlichen Nachschub an Lehrpersonen.
Reto Givel-Bernhard: Zusammenarbeit bedeutet für mich nicht nur gemeinsame Arbeit, sondern auch Zuhören und Verständnis für die Perspektiven der anderen. Durch intensivierte Zusammenarbeit können wir die Schule gemeinsam weiterentwickeln.
V. l. n. r.: Chantal Marti-Müller (Leiterin Amt für Volksschule und Sport, AVS), Reto Givel-Bernhard (Rektor der Pädagogischen Hochschule Graubünden), Nora Kaiser (Präsidentin des LEGR)
Das Gespräch führte Esther Krättli, Spartenleiterin Bereich Sprachen an der PH Graubünden.
Hinweis: Dieser Text wurde aus einem längeren Interview gekürzt und redaktionell bearbeitet. Die Aussagen wurden sinngemäss zusammengefasst, um die wichtigsten Themen hervorzuheben. Das Interview ist im Juli 2025 im Bündner Schulblatt erschienen.
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