Szenenwechsel: Eigernordwand, es ist Nacht, eingehüllt im Schlafsack, freier Blick auf 1000 Meter Tiefe. Stets im Bewusstsein, das etwas passieren kann. Wie muss man sich das vorstellen?
Sitzend auf einem Felsvorsprung, angebunden an einem 11 Millimeterseil. Da sitzt man, wie auf einem schlechten Bürostuhl - was soll da passieren? Es gibt angenehmere Orte, die Nacht zu verbringen. Wenn im Tal langsam die letzten Lichter erlöschen, dringt die Kälte langsam in die Knochen - 10 Minuten Dösen wechseln sich mit 30 Minuten Aufwärmen ab. Wenn um 2 Uhr nachts das letzte Licht auf dem Schilthorn ausgeht, hat man wenigstens die Gewissheit, dass die Morgendämmerung nicht mehr allzu fern ist.
Hattest du nie Angst?
Angst ist eine Emotion, die mich sehr wohl beeinflusst. In herausfordernden Situationen verlasse ich mich immer auf meine Intuition. Dies äussert sich bei mir durch das grosse Vertrauen in den Moment. Beim Sportklettern verfolgt mich nach vielen Erfahrungen immer noch die Angst, ins Seil zu fallen. Und das, obwohl ich genau weiss, dass ausser ein paar Metern durch die Luft zu fliegen, um dann relativ sanft von der Seildehnung aufgefangen zu werden, nichts passiert. Wer sich bereits in einer Angstsituation befindet, kann nicht erfolgreich sein, denn Angst lähmt. Meistens fürchtet man sich ja nicht vor der Situation selbst, sondern vor den Konsequenzen, die daraus resultieren. Grundsätzlich gilt jedoch: Man muss sich seinen Ängsten stellen und Strategien entwickeln, um mit ihnen umzugehen.
Und bei Prüfungsängsten?
Wichtig ist immer, Ängste nicht noch zusätzlich zu schüren. Damit meine ich nicht diese Unsicherheit vor Prüfungen, die es einem ermöglicht, im Anschluss sein Potenzial abzurufen. Ich meine diese lähmende Angst, die einen daran hindert, sein Potenzial zu entfalten. Die Motivation besteht aber nicht darin, den Schülerinnen und Schülern direkt die Angst vor einer Prüfung zu nehmen. Das funktioniert nicht. Die Situation ist vergleichbar mit der auf dem Berg. Als Bergführer muss ich meinen Gästen das Vertrauen geben, dass sie etwas können. Ich muss sie emotional unterstützen, damit sie an schwierigen Stellen Vertrauen in ihre Kompetenzen entwickeln können.
Ist es auch eine Frage des Selbstvertrauens?
Natürlich, das kennen wir doch alle. In jeder Rolle, die ich als Führungsperson einnehme, ist es mein Anspruch, die Gruppenmitglieder zu unterstützen. Indem ich beispielsweise eine Lernatmosphäre schaffe, die es ihnen ermöglicht, ihr Potenzial abzurufen. Diese kurzen Momente der gefühlten Stärke ermöglichen eine positive Entwicklung. Dies zeigt sich sowohl in der Tätigkeit als Bergführer wie auch als Lehrer.
Kannst du das an einem Beispiel erklären?
Ein gutes Beispiel aus dem Sportunterricht an der PH Graubünden ist der sogenannte Wallflip, der Rückwärtssalto an der Wand. Für viele ein Ding der Unmöglichkeit. Ich stelle mir also die Frage: Wie schaffe ich es, dass alle den Salto machen, auch wenn sie es sich selbst nicht zutrauen? Ich muss merken, wo die Studierenden zu Beginn stehen, wo sie Schwierigkeiten haben, womit sie hadern und wie ich sie unterstützen kann, damit sie den nächsten Entwicklungsschritt machen können. Das ist ein sehr persönlicher Prozess. Wie ein Bergführer auf dem Berg muss ich überzeugt sein, dass sie es schaffen und ihnen Vertrauen in ihre Fähigkeiten geben. Vieles geschieht nonverbal: durch die Stärke, die ich ausstrahle, und die Sicherheit, die ich vermittle.
Jetzt sind wir gespannt auf das Ergebnis.
Es funktioniert. Bis auf wenige Ausnahmen schaffen alle den Wallflip. Die Jugendlichen können viel mehr, als man denkt. Längst nicht nur Purzelbäume.
Liegt das Glück also in der Überwindung?
Die Kunst besteht darin, die Studentinnen und Studenten aus ihrer Komfortzone zu locken. Dann spüren sie, wie ihr Körper Adrenalin durch Dopamin ersetzt - also Glückshormone produziert. Und genau diese Momente sind es, die das Leben lebenswert machen und uns die Möglichkeit zu einer positiven Entwicklung eröffnen.
Wie erlebst du persönlich solche Augenblicke?
Wenn ich sehe, wie sich die Studierenden über etwas freuen, dass sie etwas geschafft haben, was sie sich vorher nie zugetraut hätten, wenn sie jubelnd drei Runden durch die Turnhalle rennen und rufen "Ich hab's geschafft, ich hab's geschafft", dann macht mich das glücklich. Denn ich habe meine Erwartungen an die Fachkompetenz erfüllt. Und ich weiss: Wer selbst seine Ängste überwindet und sich selber befähigt, der kann das auch an seine Schülerinnen und Schülern weitergeben. Es ist wunderbar, den Menschen Vertrauen in ihre Fähigkeiten zu geben und sie persönlich weiterzubringen. Daraus ziehe ich seit 35 Jahren meine tägliche Motivation als Sportlehrer.