Prof. Dr. Vincenzo Todisco ist Leiter der Sonderprofessur Integrierte Mehrsprachigkeitsdidaktik mit Schwerpunkt Italienisch und Dozent an der PH Graubünden. Seit 40 Jahren ist er eng mit der Stadt Chur verbunden. Er ist nebenberuflich schriftstellerisch tätig und schreibt in italienischer und deutscher Sprache. Er hat bereits fünf Romane veröffentlicht. 2005 erhielt er den Bündner Literaturpreis. Sein Roman «Das Eidechsenkind» war 2018 für den Schweizer Buchpreis nominiert.
In seinem Roman Junger Mond schreibt der italienische Schriftsteller Cesare Pavese, jeder und jede von uns brauche ein Dorf, und wäre es nur, damit man es hin und wieder gern verlässt. Ein Dorf bedeute, dass man nicht allein ist. Und man weiss, in den Menschen, in den Pflanzen lebt ein Stück von uns, das, auch wenn wir selbst nicht da sind, bleibt und auf uns wartet.
Chur ist kein Dorf, war einmal ein Dorf, Chur ist eine kleine Stadt, die älteste der Schweiz, sagt man, die Hauptstadt des dreisprachigen Kantons Graubünden. Dreisprachig nur auf dem Papier, denn wenn man aufmerksam hinhört, vernimmt man in den Gassen, Strassen, Gärten und Plätzen von Chur viele andere Sprachen und wenn man genau hinschaut, entdeckt man viele andere Kulturen. Chur ist eine bunte Stadt, man muss das richtige Auge und das richtige Ohr dafür haben. Manchmal sind es Auswärtige, die das besser erkennen als die Einheimischen. Ist es nicht so, dass wir die wahre Bedeutung unserer Orte von anderen erfahren?
Chur hat die Grösse, die es einem erlaubt zu sagen: ich kenne jeden Winkel. Es ist eine Stadt von überschaubarer Grösse. Ich bin nicht in Chur aufgewachsen, habe aber den grössten Teil meiner Schulbildung und meines beruflichen Lebens dort verbracht. Die erste Station war die Kantonsschule, wo ich vor bald vierzig Jahren meine Matura gemacht habe. Von der Halde sieht man über die ganze Stadt. Man kann genau erkennen, wo sie beginnt und wo sie endet. Noch besser erkennt man Churs überschaubare Dimension, wenn man mit der Brambrüeschbahn auf den Hausberg hinauffährt. Von dort oben wird Chur zu einer Miniaturstadt. Als ich die Kantonsschule besuchte, war Chur noch kleiner. Manchmal denke ich, dass wir gemeinsam gross geworden sind. Schon vor 13‘000 Jahren sollen altsteinzeitliche Jäger und Jägerinnen, Sammlerinnen und Sammler zweitweise auf dem heutigen Stadtgebiet gelebt haben. Schon so lange gibt es diesen Ort.
Nach der Matura war ich aus Studiengründen für eine Weile weg, aber als Heimwehbündner bin ich immer wieder zurückgekehrt.
Die zweite Station meines In-Chur-Seins war meine Lehrtätigkeit am damaligen Bündner Lehrerseminar, Standort Plessur, nahe der Altstadt. Nur schon dieser Name, Plessur, dessen Herkunft unklar bleibt und vielleicht sogar vorrömisch ist, hat etwas Magisches an sich. So weit in die Geschichte kann man sich in Chur zurückträumen. Vom Lehrerseminar konnte man in einer Zwischenstunde rasch in die Stadt gehen, um einen Kaffee zu trinken oder etwas einzukaufen. Ein paar Schritte weiter und schon war man in einem anderen Quartier, in einer anderen Welt. Chur ist eine Stadt, in der man durch die Zeitepochen wandern kann, durch die Römerzeit, das Mittelalter, die Reformation bis hin zur Moderne, und wo die Namen der Strassen und Plätze Geschichten erzählen: Quader, Plessur, Gäuggeli, Planaterra, Brambrüesch (pra bedeutet auf Romanisch Wiese und Brüesch stammt von Ambrosius, also war es einst die Wiese des Ambrosius) …
Meine vierte Station in Chur war das Büro der Pro Grigioni italiano beim Martinsplatz, im Herzen der Altstadt, wo ich als Kulturbeauftragter wirkte. Dort konnte man das Mittelalter regelrecht spüren, sogar riechen und hören, wenn es aus dem Bärenloch rief.
Die fünfte Station ist die Pädagogische Hochschule an der Scalärastrasse, unterhalb des Kantonsspitals. Dort arbeite ich nun schon seit zwanzig Jahren. Es ist ein Campus ausserhalb der Stadt. Wenn man aus dem Fenster schaut, fühlt es sich an wie auf dem Land. Man sieht die Berge, den Calanda, den Montalin, wieder so ein magischer Name, und die Surselva. Bei günstiger Wetterlage färbt dort die untergehende Sonne den Himmel in pastellfarbenen Rottönen. Ein Schauspiel und Balsam für den Geist. Der Campus ist der ideale Ort für die Geisteswissenschaften. Ich bin Geisteswissenschaftler, ich habe Sprache und Literatur studiert. Was macht ein Geisteswissenschaftler? Was ist seine eigentliche Arbeit? Er liest, denkt nach, schreibt. Das tönt nach Musse, bedeutet aber sehr oft harte Arbeit. Der Geisteswissenschaftler löse keine Probleme, schreibt Konstantin Sakkas in einem Gastkommentar in der NZZ vom 20. April 2023, sondern mache Deutungsangebote. Die PH Graubünden ist für mich der beste Ort zum Denken, Nachdenken, Lesen und Schreiben, der beste Ort, um zu lernen. Sakkas fragt, ob die Geisteswissenschaft ein Beruf sei. Er ist sich sicher, sie sei eine Kunst, «die Kunst des Abstrahierens, des Spekulierens, des Ziehens von Verbindungen». Er fügt hinzu, die Kunst sei grundsätzlich Voraussetzung für jede Wissenschaft. An der PH Graubünden betreibt man Wissenschaft – Erziehungswissenschaft, Sprachwissenschaft, Fachdidaktik usw. – , es wird geforscht, entwickelt, ausgebildet und weitergebildet. Die Geisteswissenschaften treffen auf die Naturwissenschaften und umgekehrt und in alldem schwingt die Kunst immer irgendwie mit. Eine gute Lehrperson zu sein, ist ja bekanntlich eine Kunst.
In Chur gibt es weitere Bildungsstätte, die Theologische Hochschule, das Bildungszentrum für Soziales, die Fachhochschule Graubünden, die Gewerbeschule, um nur einige zu nennen. In Chur lässt sich gut und auf vielfältige Weise lernen. Sie ist eine Stadt für junge Leute, die ihre Zukunft gestalten, und sie bietet immer neue Angebote. Und doch bleibt sie überschaubar. Die fiebrige Welt des Neuen hat in Chur eine angenehmere Temperatur. Chur ist deswegen nicht Provinz oder nur bedingt Provinz. Chur ist Natur, eine Stadt, von der man die Landschaft und die Berge auf sich wirken lassen kann. Chur ist Poesie. Wenn man im Winter durch die Altstadt schlendert, geht man an Häusern vorbei, aus denen warmes gelbes Licht scheint. Die Kunst besteht wohl auch darin, sich dieser Melancholie hinzugeben. Chur ist intim, Chur kann man aus der Nähe betrachten. In Chur kannst du die Orte und die Gebäude für dich benennen: «meine Schule», «mein Platz», «meine Strasse»...
Ein Leben lang in der gleichen Stadt zu arbeiten, mag vielleicht langweilig erscheinen, aber nicht, wenn man bedenkt, dass man deren stetige Veränderung miterleben kann. Die Orte und die Gebäude verändern sich, manche verschwinden sogar. Der Bahnhof ist längst nicht mehr so, wie er zu meiner Kantonsschulzeit war, aber ich kann mich noch an die alte Unterführung mit den weissen Wandfliesen erinnern. Oder ich erinnere mich an den damaligen Standort der Buchhandlung Schuler, an der Kreuzung zwischen Post- und Grabenstrasse, dort, wo heute die Graubündner Kantonalbank steht. Ich kann mich noch genau an die eng aneinander gereihten Regale und an den Geruch der Bücher erinnern.
Es sind private Erinnerungsstücke von Chur. Und auch wenn ich hier geblieben bin, oder anders gesagt, immer wieder nach Chur zurückgekehrt bin, ist mir der Wechsel in andere Sprachen und Kulturen nicht verwehrt geblieben, im Gegenteil, dieser Ort hat eine Stärkung meiner schöpferischen Identität bewirkt.
Für manche ist Chur die Lebensstadt, die Wohnstadt, für andere die Arbeitsstadt oder Studienstadt, für einige ist sie beides oder noch viel mehr. Jede und jeder liebt Chur auf seine Art. Und so könnte man mit Cesare Pavese sagen, jeder und jede von uns brauche auch eine Stadt, und wäre es nur, damit man sie hin und wieder gern verlässt. Und man weiss, in den Strassen, Plätzen, Gärten, Gassen, in den Menschen lebt ein Stück von uns, das, auch wenn wir selbst nicht da sind, bleibt und auf uns wartet.