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«Wir brauchen motivierte und enthusiastische Lehrerinnen und Lehrer, die vermitteln, dass Informatik kreative Arbeit bedeutet»

Prof. Dr. Dennis Komm ist seit 2022 ausserordentlicher Professor an der ETH Zürich für Algorithmen und Didaktik sowie Lehrgangsleiter des CAS Informatik und Informatikdidaktik, das gemeinsam von der PH Graubünden und ETH Zürich angeboten wird. Sein Forschungsinteresse gilt dem Entwurf und der Analyse von Algorithmen sowie der Informatikausbildung. Im Interview wagt er den Blick in die Schule der Zukunft und erläutert mögliche Handlungsstrategien, wie sich Schulen und Lehrpersonen proaktiv auf die Welt von morgen vorbereiten können.

Was ist ein Algorithmus?
Ein Algorithmus ist eine Anleitung, mit deren Befolgung sich ein konkretes Problem lösen lässt. Unter einem «Problem» verstehen wir dabei eine Sammlung von Probleminstanzen, die wiederum konkrete Fälle des Problems beschreiben. Ein Problem ist beispielsweise, den schnellsten Weg von A nach B in einem gegebenen Verkehrsnetz zu berechnen und eine Instanz dieses Problems ist, den schnellsten Weg von Zürich nach Chur mit dem ÖV zu finden.

Zentral ist dabei, dass Algorithmen so formuliert sein müssen, dass sie ohne Intellekt und Improvisationsvermögen – also ohne «mitzudenken» – beispielsweise von einem Computer ausgeführt werden können. Der Entwurf von Algorithmen bedarf üblicherweise hingegen Kreativität und Problemlösefähigkeiten wie einem guten Abstraktionsvermögen.

Wie lernen Algorithmen?
Bei klassischen Algorithmen geschieht das Lernen vor dem Monitor, nämlich bei der Entwicklerin bzw. der Programmiererin. Diese hat etwas über das Problem, das es mit einem Algorithmus zu lösen gilt, gelernt, und nutzt dies aus, um den Algorithmus möglichst effizient zu machen; beispielsweise, indem bestimmte Streckenabschnitte anderen gegenüber bevorzugt werden, wenn wir beim Problem «von A nach B kommen» bleiben. Ein solcher («deterministischer») Algorithmus befolgt dann stumpf die Strategie, die seine Programmiererin sich ausgedacht hat.

Spricht man hingegen von «lernenden Algorithmen», geht es ein Stück weit um einen Paradigmenwechsel – das Lernen geschieht hinter dem Monitor. Hier wird dem Algorithmus beispielsweise eine Menge von Probleminstanzen und bereits bekannten Lösungen gezeigt. Aus diesen «lernt» der Algorithmus nun etwas, was ihm idealerweise hilft, wenn er mit einer bislang unbekannten Probleminstanz konfrontiert wird. Um das obige Beispiel weiterzuspinnen, werden dem Algorithmus schnellste Strecken zwischen konkreten Orten A und B gezeigt, woraus er dann im Idealfall eine schnellste Strecke zwischen zwei unbekannten Orten ableiten kann.

 

Dann wird maschinelles Lernen in vielen Fällen durch Menschen beeinflusst?
Derartige Algorithmen werden in der Tat auf Daten «trainiert», die natürlich von irgendwo stammen müssen. Aktuell sind das oftmals Daten, die von Menschen erschaffen sind, im obigen Beispiel könnten dies manuell berechnete schnellste Strecken zwischen zwei Orten sein.

Der Chatbot ChatGPT, der natürlich gerade in der Schule ein grosses Thema ist, wurde wiederum unter anderem mit Wikipedia- und Projekt-Gutenberg-Texten trainiert. Je nach Anwendung bestehen Trainingsdaten auch aus Bildern oder Musikstücken. Zudem sei natürlich auch erwähnt, dass Systeme auf menschlichen Daten trainiert werden können, die ungewollt und vielleicht sogar unbemerkt anfallen.

Lernen Maschinen wie Menschen?
Systeme wie neuronale Netze haben offensichtliche biologische Vorbilder, unterscheiden sich aber doch ganz wesentlich davon. Und man muss, um diese Frage zu beantworten – rein formal – natürlich erst einmal verstehen, wie Menschen denn ganz genau lernen. Und das tun wir nicht. Aber selbstverständlich ist es so, dass Menschen Erfahrungen sammeln und aufgrund dieser ihr Verhalten anpassen. Das machen wir recht gut, es hat unser Überleben über die Jahrtausende gesichert. Algorithmen sind mittlerweile sehr gut darin, aus Daten Muster herauszulesen und daraus ein Verhalten für unbekannte Situationen zu extrapolieren. Wenn wir also Lernen als die Fähigkeit verstehen, Handlungsstrategien aus Erfahrung abzuleiten, gibt es klare Gemeinsamkeiten. Übrigens auch darin, dass sich sowohl Maschinen als auch Menschen dabei austricksen lassen.

 

Die 10'000-Stunden-Regel besagt, dass wir etwas sehr oft und intensiv wiederholen müssen, bis wir es richtig können. Gilt das auch für lernende Algorithmen?
In der Tat ist es so, dass die Grösse der Menge an Trainingsdaten ein wesentlicher Parameter für den Erfolg solcher Algorithmen ist. Aber viele weitere Details der Implementierung und wie genau gelernt wird sind ein mindestens so wichtiger Faktor. Es reicht beispielsweise nicht, eine Quinquagintilliarde Bücher zu nehmen und daraus wahrscheinlichste Antworten für gestellte Fragen zu generieren. Es steckt viel mehr dahinter.

 

Wird sich mit dem zunehmenden Fortschreiten der Digitalisierung unser Verständnis von Bildung verändern?
Was in der Schule vermittelt bzw. welche Kompetenzen gefördert werden ist nicht auf ewig in Stein gemeisselt. Auf der einen Seite sind wir uns hoffentlich alle einig, dass Bildung nicht blosses Auswendiglernen von Fakten bedeutet – und das auch ganz ohne die ständige Verfügbarkeit von Wikipedia oder ChatGPT.

Auf der anderen Seite ist das Übergeordnete, worauf die Schule vorbereiten soll, in meinen Augen durchaus zeitlos; nämlich darauf, ein selbstbestimmtes und verantwortungsvolles Leben führen zu können und sich in der Welt zurechtzufinden; diese idealerweise sogar mitgestalten zu wollen und mitzugestalten. An diesem Grundgedanken ändert sich nichts; was sich aber ändert ist jene Welt.

Sie ist zunehmend von Menschen gemacht und sie ist zunehmend digital und es ist wichtig, die Schülerinnen und Schüler darauf vorzubereiten. Zum einen halte ich es für durchaus wichtig, für gewisse Dinge zu sensibilisieren, beispielweise die digitalen Spuren, die man unbemerkt hinterlässt, oder aber eben auch dafür, dass man gerade von Chatbots generierten Texten nicht blind vertrauen darf. Die Informatik ist zum anderen die Grundlagenwissenschaft, die die der modernen Welt zugrundeliegenden Phänomene erklärt; sowie die Physik dies beispielsweise mit natürlichen Phänomenen tut.

Auch hier ist die Entwicklung aber nichts, was die jüngsten Errungenschaften im maschinellen Lernen oder konkret ChatGPT losgetreten haben: Im Zentrum müssen mehr und mehr diejenigen Dinge stehen, für die Menschen gebraucht werden, also beispielsweise die eingangs erwähnten Problemlösekompetenzen wie Abstraktionsvermögen etc. Auf die Spitze treiben möchte ich dieses Argument allerdings nicht: Ein gewisses Faktenwissen sollte im Langzeitgedächtnis abrufbar bleiben. In der Science-Fiction-Kurzgeschichte «The feeling of power» von Isaac Asimov sind die Menschen irgendwann so abhängig von Maschinen, dass sie die Grundrechenarten verlernt haben. Dahin möchten wir sicher nicht! Eine Absolventin egal welcher Schule sollte auch weiterhin überschlagen können, ob der angezeigte Betrag an der Migroskasse sinnvoll ist.

 

Wie müssen wir uns den Schulalltag in Zukunft vorstellen?
Ich habe in letzter Zeit häufiger von Kolleginnen und Kollegen den Ausspruch «Der Geist ist nun einmal aus der Flasche» gehört und ich schliesse mich dem an. Es mag einem gefallen oder nicht, aber Sprachmodelle wie ChatGPT werden immer besser werden und es scheint mir nicht zielführend, die Augen davor zu verschliessen oder sie gar zu verteufeln.

Wir sollten diskutieren, wie sinnvoll es ist, die Leistung einer Schülerin oder eines Studenten allein anhand einer schriftlichen Arbeit zu beurteilen. Eine Doktorprüfung gilt beispielsweise nicht dann als bestanden, wenn die schriftliche Arbeit einer hohen Qualität entspricht, sondern wenn sie vor einem Komitee von Expertinnen und Experte «verteidigt» wurde. Und auch Maturaarbeiten werden in der Regel präsentiert. Dies sollte massgeblich für die Notengebung sein. Prüfungen, die unter kontrollierten Bedingungen stattfinden, müssen zentral sein für das Beurteilen von Leistung. Aber auch das ist nichts neues.

Lässt sich durch den richtigen Unterricht jede Person für Informatik begeistern?
Genau so wenig wie sich jede Person für Musik oder Sport begeistern lässt. Es gibt Präferenzen und das ist auch gut so. Aber mit schlechtem Informatikunterricht kann man viele potenzielle Informatikerinnen und Informatiker vergraulen; und diese Gefahr sehe ich tatsächlich in der Informatik als besonders gross, denn es herrschen zum Teil noch immer falsche Vorstellungen darüber, was Informatik eigentlich ist. Darum brauchen wir motivierte und enthusiastische Lehrerinnen und Lehrer, die vermitteln, dass Informatik kreative Arbeit bedeutet.

 

Zum Schluss noch ein Tipp für alle Lehrpersonen: Wie reagieren sie am besten, wenn sie vermuten, dass die Schülerinnen und Schüler ihre Hausaufgaben mit ChatGPT gelöst haben? 
Den Dialog suchen und den Schülerinnen und Schülern, vielleicht in Bezug auf die von Ihnen oben erwähnte 10'000-Stunden-Regel, erklären, dass Dinge geübt werden müssen, um sie zu beherrschen. Aber natürlich werden Sprachmodelle bzw. Chatbots weiterhin verwendet werden, genauso wie Schülerinnen und Schüler weiterhin voneinander abschreiben werden.

Zentral scheint mir wirklich, wie Leistung beurteilt wird; und das sollte, wie ebenfalls bereits erwähnt, ohnehin nicht durch das blosse Lesen der Hausaufgaben oder -arbeiten passieren.

Natürlich sehe ich auch Anwendungsmöglichkeiten für Chatbots, die sinnvoll sein können. Sie sind ein mächtiges Werkzeug, dessen Grundlagen verstanden werden sollten und dessen Nutzen immens sein kann – wenn man ihren Output nicht für bare Münze nimmt, sondern sorgfältig überprüft.

Muss man Informatikprofessor sein, um ihnen auf die Schliche zu kommen?
Aktuell muss man das nicht, es gibt relativ klare Indikatoren. Aber es wird schwerer werden und wir werden wohl ein Wettrüsten erleben zwischen Tools, die generierte Texte erkennen, und solchen, die diese austricksen.

Ich bin allerdings schon ein bisschen erstaunt, wenn ich höre, dass es absolut einfach wäre, von Chatbots generierte Texte zu entlarven, weil diese «zu gut» geschrieben seien; denn natürlich ist das auch nur so lange richtig, wie ich das Sprachmodell nicht bitte, wie eine 12-Jährige zu schreiben.

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