Wissenschaftliche Mitarbeiterin III, als Leiterin MINT
Was sind aus Ihrer Sicht als Rektor die bedeutsamsten Entwicklungen in den letzten 20 Jahren in der Geschichte der PH Graubünden und insbesondere der letzten neun Jahre in welchem Sie die Hochschule nun führen?
Die in den 1990er Jahren vorbereitete und nach der Jahrtausendwende umgesetzte Reform der Tertiarisierung der Lehrerinnen- und Lehrerbildung und die damit einhergehende Gründung der Pädagogischen Hochschulen in der Schweiz ist der Beginn einer Erfolgsgeschichte. Auch in Graubünden wurden die Lehrpersonen für den Kindergarten und die Primarschule seit 2003 nicht mehr an den kantonalen Lehreseminaren, sondern an der Pädagogischen Hochschule Graubünden ausgebildet. Als Meilensteine bezüglich der äusseren, formalen Tertiarisierung können beispielsweise die Gründung der PH Graubünden an sich, die Modularisierung der Bachelor- und Masterstudiengänge, die Erst- und Wiederanerkennungen der Diplome durch die Konferenz der kantonalen Erziehungsdirektorinnen und -direktoren (EDK), die Überführung in eine selbständige Anstalt des öffentlichen Rechts, die Eröffnung des Erweiterungsbaus mit den Hörsälen und der Bibliothek, die institutionellen Akkreditierung als Hochschule sowie die Schaffung der ersten Professur als Organisationseinheit bezeichnet werden. Hochschulen bestehen aber nicht nur aus Beton, Papier und Strukturen, sondern aus einer spezifischen Kultur. Dementsprechend ging es in den letzten 20 Jahren vor allem auch darum, eine Hochschulkultur zu etablieren. Dieser Prozess kann als innere Tertiarisierung bezeichnet werden. An der Pädagogischen Hochschule Graubünden zeigt sich diese innere Tertiarisierung insbesondere anhand der inhaltlichen Weiterentwicklung und am Ausbau der Bachelor- und Masterstudiengänge, dem Wissenstransfer zwischen Forschung und Lehre sowie zwischen Lehre und Praxis, der aktiven Teilnahme am nationalen und teilweise auch internationalen Wissenschaftsdiskurs sowie einer auf die Bedürfnisse der Hochschule ausgerichteten, systematischen Nachwuchsförderung.
Was zeichnet die PH Graubünden aus Ihrer Sicht aus? Sie verzeichnen so hohe Studierendenzahlen wie nie zuvor. Was denken Sie sind die Beweggründe, dass so viele Menschen Lehrperson werden wollen?
Unsere heutige Welt in der wir leben, ist von ständigen Veränderungen geprägt. Megatrends wie die Globalisierung, die Urbanisierung, die Klimaveränderung oder die Digitalisierung stellen uns vor grosse, gesamtgesellschaftliche Herausforderungen. Die gegenwärtigen gesellschaftlichen, politischen und wirtschaftlichen Entwicklungen werden zunehmend als volatil, unsicher, komplex und mehrdeutig wahrgenommen. Junge Menschen wollen in dieser sogenannten VUCA-Welt vermehrt Verantwortung übernehmen, sie suchen nach Sinnhaftigkeit in ihrem Tun und sie wollen mit ihrem Handeln einen Beitrag zugunsten der gegenwärtigen und zukünftigen Gesellschaft leisten. Der Beruf der Lehrperson bietet ihnen diese Möglichkeit. Lehrpersonen prägen mit ihrer Arbeit die Gesellschaft von morgen, denn unterrichten ist mehr als nur Vermitteln von Wissen. Lehrpersonen inszenieren Lerngelegenheiten, in denen der fachliche und überfachliche Kompetenzaufbau gefördert wird, Normen und Werte vermittelt werden und auf diese Weise die Persönlichkeitsbildung von jungen Menschen unterstützt wird. Natürlich ist es auch so, dass oftmals sehr viel einfachere Dinge den Ausschlag für eine Wahl der PH Graubünden als Studienort geben, wie beispielsweise das innovative Studienangebot, die familiäre Kultur, welche sich insbesondere anhand der offenen Türen und kurzen Wege zeigt, die gelebte Mehrsprachigkeit sowie die Möglichkeit ein zweisprachiges Diplom zu erwerben. Vielleicht ist es auch der Gebirgskanton Graubünden mit seinen Mehrklassen-Schulen in den verschiedenen Talschaften, welche die angehenden Lehrpersonen ansprechen und ihnen eine berufliche Perspektive eröffnen.
Auf welche zukünftigen Herausforderungen müssen wir uns einstellen? Und wie wird sich der Beruf der Lehrperson verändern?
Die oben erwähnte VUCA-Welt führt dazu, dass die Rahmenbedingungen von Schule insgesamt komplexer werden. Gleichzeitig scheinen auch die Erwartungen an das, was Schule vor dieser wachsenden Komplexität erreichen soll, vielfältiger und insgesamt anspruchsvoller zu werden. Obwohl sich die traditionellen Funktionen von Schule sowie ihre Wertorientierung auch in Zukunft nicht verändern wird, müssen wir uns mit dem Was und dem Wie auseinandersetzen. Die Kammer PH von swissuniversities hat das gemacht und das Projekt «Weiterentwicklung der Qualifikation von Primarlehrpersonen» (QuaPri) lanciert. Der Schlussbericht wurde 2021 publiziert. Die Fragen des Was und des Wie der Schule der Zukunft können in etwa wie folgt zusammengefasst werden: Wie kann die Primarschule Wissen vermitteln und den Kompetenzaufbau fördern, wenn sich das Verhältnis und der Zugang zu Wissen durch den Einsatz neuer Technologien und permanenter Konnektivität verändert? Wie kann die Primarschule adäquat qualifizieren und selektionieren und so einer sich massiv verändernden Arbeitswelt gerecht werden? Welches grundlegende Wissen und welche grundlegenden Kompetenzen sollen Schülerinnen und Schüler erwerben, um als mündige Bürgerinnen und Bürger an einer sich wandelnden Gesellschaft teilnehmen und diese aktiv mitgestalten zu können? Was müssen Schülerinnen und Schüler wissen und können, um ein selbständiges, berufliches Leben zu führen und mit den Anforderungen aus der Arbeitswelt produktiv umzugehen? Wie kann die Primarschule die Integrationsfunktion wahrnehmen, wenn Individualisierung und Pluralisierung den Umgang mit Normen, Werten und Weltanschauung verändern? Wie kann die Primarschule ihre betreuende Funktion vermehrt wahrnehmen und entsprechend ihre Strukturen flexibilisieren, wenn individuelles Lernen unabhängig von Zeit und Ort stattfinden kann und gleichzeitig soziales Lernen, Integration und Partizipation sowie eine Verbindung von Lebenswelten einen höheren Stellenwert erhalten? Es ist die Aufgabe der Gesellschaft und insbesondere der Schule, sich mit diesen oder ähnlichen Fragen auseinanderzusetzen. Mit dem Wandel der Gesellschaft wird sich die Schule und damit auch der Beruf der Lehrperson kontinuierlich verändern. Unsere Gesellschaft benötigt auch in Zukunft kompetente Lehrpersonen in genügender Anzahl. Dementsprechend kommt der Aus- und Weiterbildung von Lehrpersonen auch in Zukunft eine hohe gesellschaftliche Bedeutung zu.
Das 20 jährige Jubiläum steht unter dem Motto hochwertige Bildung. Was steckt dahinter und welche Bedeutung hat eine hochwertige Bildung für die PH Graubünden?
Im Zentrum jeder Hochschule steht der Erkenntnisgewinn und die Zirkulation des Wissens. Damit dienen die Hochschulen in hohem Masse der Gesellschaft. Pädagogische Hochschulen fokussieren dabei insbesondere die Prozesse des Lernens, des Lehrens und der Entwicklung. Hochwertige Bildung für alle, ist sozusagen die Essenz aus diesen beiden Gedanken. Entsprechend haben wir für das 20 jährige Jubiläum der PH Graubünden drei Projekte lanciert. Mit dem ersten Projekt, der Hausaufgabenhilfe, dankt die PH Graubünden der Bevölkerung, indem sie 20 Schülerinnen und Schülern aus Graubünden bei ihren Hausaufgaben unterstützt. Hierzu konnten während einem Semester 20 Studierende der PH Graubünden vermittelt werden. Die Auswahl der Schülerinnen und Schüler, welche von diesem Angebot profitieren konnten, wurden anlässlich der Adventsfeier 2022 per Los bestimmt. Mit dem zweiten Projekt, der Festschrift, beschreiben Zeitzeugen und Fachleute die Geschichte der PH Graubünden aus verschiedenen Perspektiven. Das dritte Projekt ist schliesslich eine Feier, an welcher geladene Gäste und Mitarbeitende der PH Graubünden gemeinsam auf die Geschichte der PH Graubünden zurückblicken.
Die Entwicklung der PH Graubünden bezeichnen Sie als Erfolgsgeschichte. Welche Herausforderungen sehen sie für die PH Graubünden in den nächsten Jahren?
Ja das stimmt. Die PH hat ihren Auftrag erfüllt. Massgebend für den Erfolg war die grosse Arbeit von zahlreichen Menschen. Ihnen gebührt mein aufrichtiger Dank. Die Lehrerinnen- und Lehrerbildung in der Schweiz und auch in Graubünden wird sich stetig weiterentwickeln und den sich verändernden Bedürfnissen anpassen. Es kann gut sein, dass Lehrpersonen im Jahre 2035 ein berufsbefähigendes Studium als Fächerlehrperson auf Stufe Bachelor abschliessen und dieses mit einem freiwilligen, konsekutiven Master als Generalistin oder als Generalist komplettieren. Ich könnte mir auch vorstellen, dass wir uns national darauf einigen, über welches Wissen und welche Kompetenzen Lehrpersonen in den jeweiligen Fächern verfügen müssen, damit sie eine Lehrbefähigung erhalten. Ebenso gehe ich davon aus, dass die Phasen des Studiums, der Berufseinführung und der Berufsausführung zunehmend vernetzt betrachtet und die Angebote vermehrt komplementär aufeinander ausgerichtet werden. Ebenso werden wir bis ins Jahr 2035 aus unserer Forschung neue Erkenntnisse in Bezug auf das Lernen, das Lehren und die Entwicklung gewinnen können, welche in die Aus- und Weiterbildung einfliessen werden. Herausfordernd bleibt die Personalgewinnung, die Finanzierung sowie die infrastrukturelle Situation im Zusammenhang mit den steigenden Studierendenzahlen.