Interview
Sprache bestimmt darüber, wer wir sind

Weltweit existieren rund 7000 Sprachen. Einige werden von Milliarden Menschen gesprochen, andere kämpfen ums Überleben. Auch Kleinsprachen tragen eine einzigartige Kultur in sich, aber sie verschwinden. Warum ist das so? Wir sprechen darüber mit Prof. Dr. Vincenzo Todisco, Leiter der Professur Italienisch an der Pädagogischen Hochschule Graubünden und Mitorganisator der Tagung zu Minderheitensprachen in Davos.

Sie sind Sprachforscher. Welche Bedeutung hat eine Sprache?

Das Sprachvermögen ist ein Wesensmerkmal des Menschen, es unterscheidet ihn von anderen Lebewesen. Erst durch die Sprache, diesem hochkomplexen, aber effizienten Kommunikationssystem, ist der Mensch zu dem geworden, was er ist. Dank der Sprache konnten sich unsere Vorfahren über Gefahren und Nahrungsquellen austauschen, sie konnten bei der Jagd effizienter zusammenarbeiten und hatten somit enorme evolutionäre Vorteile. Sprache ist das Werkzeug unseres Denkens und hat vielerlei Funktionen. Sie dient in erster Linie der Kommunikation, aber nicht nur, sie prägt unsere Identität, Kultur und ermöglicht soziale Interaktion. Die Sprache bestimmt also darüber, wer wir sind, wie wir denken und wie wir mit der Welt interagieren.

Weltweit gibt es Tausende von Minderheitensprachen, viele davon sind vom Aussterben bedroht. Warum?

Viele Faktoren bedrohen oder lassen eine Sprache aussterben. Die Globalisierung hat dazu geführt, dass globale Verkehrssprachen wie Englisch, Spanisch oder Mandarin kleinere Sprachen verdrängen. Migrationsbewegungen können dazu führen, dass Herkunftssprachen aufgegeben werden. Wirtschaftliche Faktoren wie Industrialisierung und Urbanisierung haben zur Folge, dass traditionelle Lebensweisen, in denen kleine Sprachen gesprochen wurden, aufgegeben werden. Man könnte sagen, je mehr die Welt zusammenwächst, desto deutlicher geraten Kleinsprachen unter Druck. Auch der Status einer Sprache spielt eine Rolle. Amtssprachen haben es leichter, weil sie staatlich geschützt sind und in der Schule weitergegeben werden. Kleinere Sprachen, die vielleicht nur von wenigen gesprochen werden, werden hingegen verdrängt. So hat Sprache auch sehr viel mit Macht zu tun. Jede Sprache ist aber schützenswert, denn jede Sprache, die verschwindet, bedeutet den Verlust einer einzigartigen Perspektive auf die Welt.

Folgt es nicht einfach dem Prinzip «Survival of the fittest», nach dem sich die stärksten und anpassungsfähigsten Sprachen durchsetzen?

In Europa sind – ausser Isländisch – alle Kleinsprachen von grösseren und prestigeträchtigeren Sprachen umzingelt. Kleinsprachen, und insbesondere bedrohte Sprachen, müssen sich immer mit der Dominanz grösserer Sprachen messen. Wie schon Iso Camartin in seinem Buch Nichts als Worte? Ein Plädoyer für Kleinsprachen festgestellt hat, ist an der Grenze zu einer dominanten Sprache oder sogar im gemeinsamen Territorium die Lage für eine Kleinsprache immer kritisch. Umgekehrt könnte man die soziale und kulturelle Reife einer Gesellschaft daran messen, wie sie mit ihren Minderheitensprachen umgeht. Wie gesagt, Sprache bestimmt, wer und wie wir sind. 

Gibt es Sprachen, die, obwohl sie vom Aussterben bedroht oder schon ausgestorben waren, wieder belebt werden konnten?

Ja, es gibt solche Fälle. Manx, zum Beispiel, auch Galik oder Manx-Gälisch genannt, ist eine im 20. Jahrhundert als Erstsprache vorübergehend ausgestorbene inselkeltische Sprache auf der Isle of Man in der Irischen See. Die letzte Person, die Manx als Muttersprache verwendete, starb 1974. Durch gezielte Sprach- und Schulprogramme konnte Manx wiederbelebt werden. Heute gibt es wieder Kinder, die es als Erstsprache sprechen. Ein anderes Beispiel ist die indigene Sprache der Wampanoag an der Ostküste der USA. Diese Sprache war über 100 Jahre nicht mehr gesprochen, wurde aber durch gezielte Revitalisierungsprojekte, darunter auch Sprachkurse, wiederbelebt.

Die Digitalisierung beeinflusst die Art, wie wir kommunizieren. Welchen Einfluss hat die KI auf den Fortbestand von Minderheitensprachen?

Die Digitalisierung kann mit KI, sozialen Medien, Online-Lernplattformen helfen, bedrohte Sprachen für die folgenden Generationen zugänglich zu machen. Digitale Spracharchive können zudem beitragen, vom Aussterben bedrohte Sprachen wiederzubeleben. Damit eine Sprache überlebt, reicht es allerdings nicht, dass sie dokumentiert wird, sie muss im Alltag von Menschen gesprochen werden. Man könnte die Sprachenvielfalt mit der Artenvielfalt vergleichen. Im bereits zitierten Buch meint Iso Camartin, dass der Niedergang einer Sprache erst dann unaufhaltsam wird, wenn man ihn als natürlichen Vorgang hinnimmt.

Sind wir auch in der Schweiz davon betroffen?

Die Schweiz als offiziell mehrsprachiges Land ist sehr wohl mit Fragen rund um den Erhalt und die Förderung von Minderheitensprachen konfrontiert. Nur 0.5% der in der Schweiz wohnhaften Personen haben Rätoromanisch als Erstsprache. Im Vergleich zu den 61.3% Deutschsprachigen ist das ein sehr tiefer Prozentsatz. Und wenn man bedenkt, dass 1.4 Milliarden Menschen auf der Welt Englisch, 1.1 Milliarden Mandarin und 609 Millionen Hindi sprechen, ist Rätoromanisch mit ihren 40'000 Muttersprachler:innen eine sehr kleine Sprache, aber immer noch grösser als Sprachen, die nur noch eine Handvoll Sprecher:innen haben. Man muss gar nicht so weit suchen. Auch bei uns gibt es Sprachen, die praktisch ausgestorben sind, so zum Beispiel das bündnerische Averser Deutsch, das früher in Juf oder Cresta gesprochen wurde. Und vergessen wir nicht das Jenische und Jiddische, die als nicht territoriale Minderheitensprachen in der Schweiz einen besonders schweren Stand haben.

Was kann konkret getan werden, um sehr bedrohte oder ausgestorbene Sprachen zu erhalten?

Damit eine stark bedrohte Sprache erhalten bleibt, braucht es staatliche Unterstützung und Förderung und gesetzliche Vorgaben. Damit eine ausgestorbene Sprache wiederbelebt werden kann, muss sie in irgendeiner Form festgehalten sein, z.B. in Büchern oder Tonaufnahmen. Es braucht Menschen, die engagiert diese Sprache wieder sprechen wollen, also braucht es Sprachunterricht und entsprechende Materialien und staatliche und institutionelle Unterstützung.

Welche Rolle spielt die Wissenschaft? 

Forschung und Wissenschaft spielen eine sehr wichtige Rolle bei der Förderung und dem Erhalt bedrohter und der Wiederbelebung ausgestorbener Sprachen. Bedrohte Sprachen müssen in Wörterbüchern, Grammatiken und Textsammlungen fixiert werden, sonst verlieren sie sich im luftleeren Raum. Die historische Linguistik hat Methoden entwickelt, wie man verschwundene Sprachen rekonstruieren kann. Fachdidaktische Forschung kann Antworten darauf geben, wie eine bedrohte Sprache am effizientesten unterrichtet wird. Ein wichtiges Forschungsfeld wird durch die Soziolinguistik abgedeckt. Untersuchungen zur Sprachpolitik können Gesetzgebungen zum Schutz und zur Förderung von Minderheitensprachen beeinflussen. Ohne empirische Daten, die von der Forschung geliefert werden, ist es nicht möglich, bedrohte Sprachen zu fördern.

All diese Faktoren tragen dazu bei, die sprachliche Vielfalt unserer Welt überhaupt sichtbar zu machen, denn die Tendenz zur Homogenisierung, die von der Globalisierung und Digitalisierung herrührt, führt dazu, dass kleine und bedrohte Sprachen verstummen.

Sprachenvielfalt im Fokus: Internationale Tagung in Davos


Im Mai findet in Davos die internationale Tagung «Mehrsprachigkeit und sprachliche Minderheiten in einem globalen Kontext» statt. Diese befasst sich mit Fragen rund um Minderheitensprachen aus der Schweiz und weltweit. 

Datum:
21. bis 23. Mai 2025

Ort:
Kongresszentrum Davos

Anmeldung:
bis 30. April 2025 unter phgr.ch/tagung-minderheitensprachen

Eine Kooperation von:
Pädagogische Hochschule Graubünden, Pädagogische Hochschule Luzern, unter dem Patronat des internationalen Konsortiums «Mehrsprachigkeit als Chance»    

Prof. Dr. Vincenzo Todisco ist Leiter der Professur Italienisch und Italienischdidaktik an der Pädagogischen Hochschule Graubünden und Mitorganisator der Tagung zu Minderheitensprachen in Davos.

Internationale Tagung in Davos Mehrsprachigkeit und sprachliche Minderheiten in einem globalen Kontext

Vom 21. bis zum 23. Mai 2025 organisiert die Pädagogische Hochschule Graubünden in Zusammenarbeit mit der Pädagogischen Hochschule Luzern eine internationale Tagung zur Mehrsprachigkeit und zu sprachlichen Minderheiten. Im Kongresszentrum Davos treffen sich Vertreter:innen von Minderheitensprachen aus allen Kontinenten zum wissenschaftlichen Austausch. Die Veranstaltung steht auch der interessierten Öffentlichkeit offen.

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Wissenschaftliche Tagung Mehrsprachigkeit und sprachliche Minderheiten in einem globalen Kontext – 10. Tagung des internationalen Konsortiums «Mehrsprachigkeit als Chance»

Vom 21. bis 23. Mai 2025 findet in Davos, Graubünden (Schweiz), die Tagung zum Thema «Mehrsprachigkeit und sprachliche Minderheiten in einem globalen Kontext» statt. Die Tagung wird von der Pädagogischen Hochschule Graubünden (PHGR) in Zusammenarbeit mit der Pädagogischen Hochschule Luzern (PHLU) und unter dem Patronat des internationalen Konsortiums «Mehrsprachigkeit als Chance» organisiert. Partnerorganisationen sind das Dipartimento formazione e apprendimento/Alta scuola pedagogica (SUPSI/DFA, Tessin) und die Pädagogische Hochschule Wallis (HEPV-S). Die DAZ-Tagung (Deutsch als Zweitsprache) ist in die Tagung «Mehrsprachigkeit und sprachliche Minderheiten in einem globalen Kontext» integriert. Weiterführende Informationen folgen mit der Veröffentlichung des Programmes.

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Professur Italienisch und Italienischdidaktik

Im Zentrum der Professur steht die Auseinandersetzung mit der Mehrsprachigkeitsdidaktik sowie der Didaktik des Italienischen als Schul- und Fremdsprache. Der Fokus liegt aktuell insbesondere auf der Förderung des doppelten Kompetenzprofils des PH-Nachwuchses in diesen Bereichen sowie der Entwicklung von Lehrmitteln für das Fach Italienisch als Schul- und Fremdsprache auf Primar- und Sekundarstufe I.

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Professur Romanisch und Romanischdidaktik

Die Professur für Professur Romanisch und Romanischdidaktik ist in den Fachbereichen Erziehungswissenschaft/Bildungsforschung und Angewandte Linguistik angesiedelt. Sie bewegt sich an der Schnittstelle zwischen allgemeiner Didaktik, fachdidaktischer Forschung und angewandter rätoromanischer Sozio- und Bildungslinguistik. Der Schwerpunkt der Professur liegt (derzeit) in der Entwicklung und Erforschung rätoromanischer Lehrmittel.

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